
Einleitung
Am 23. Februar finden die vorgezogenen Bundestagswahlen statt. Viele Menschen, gerade jene, die dem Vormarsch der Rechten mit Entsetzen, jedoch häufig auch großer Hilflosigkeit gegenüber stehen, fragen sich, wen sie in knapp zwei Wochen wählen sollten. Die meisten Mitglieder unserer Organisation und generell der migrantischen Community sind nicht wahlberechtigt. Dennoch wird uns der Ausgang der Wahl wie wahrscheinlich kaum eine andere Bevölkerungsgruppe betreffen. Wir sind das zentrale Thema dieses Wahlkampfs, alle Politiker:innen reden über uns. Indes scheint niemand wirklich ein Interesse daran zu haben, mit uns zu sprechen. Dennoch bzw. gerade deshalb nehmen wir uns die Freiheit, uns im Folgenden zur Bundestagswahl am 23. Februar zu äußern; dazu, wie unsere Situation aussieht, welches der globale und nationale Kontext ist, in dem diese Wahl stattfindet und schließlich auch, wen ihr wählen sollt und aus welchen Gründen. Außerdem werden wir erneut die Begrenztheit der parlamentarischen Politik aufzeigen und zur strategischen Diskussion und gemeinsamen Aktion linker Organisationen aufrufen, in denen der Kampf für migrantische Lebens- und Arbeitsbedingungen von strategischer Wichtigkeit sein muss. Denn historisch haben wir gesehen, dass deren Vernachlässigung zum Scheitern der Arbeiter:innenbewegung führt, wie z.B. in den 1970er Jahren bei den Ford-Streiks1 der türkischstämmigen Arbeiter:innen.
Migrationsdebatte als Nebelkerze
Seit Jahren findet ein Überbietungswettbewerb der Parteien statt, wer am härtesten gegen uns Migrant:innen vorgeht. Ob BSW oder FDP, ob Merz’ 5-Punkte-Plan2, „endlich im großen Stil abschieben“-Olaf3 oder Haftlager an den EU-Außengrenzen Habeck4 (mit moralischen Bauchschmerzen, versteht sich), sie alle haben sich dem rassistischen Kanon angeschlossen, der uns Migrant:innen wahlweise zum Sündenbock für die schlechte Wirtschaftsleitung, Wohnungsknappheit, Unsicherheit, Antisemitismus und selbst mangelnde Termine beim Zahnarzt macht. Im selben Atemzug wird dann der Ausbau des repressiven Staates bei gleichzeitigem Abbau des Sozialstaats mit unserer Existenz begründet. Unterdessen werden wir von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen, können nicht wählen, nur selten streiken, da Gewerkschaften kaum Politik für migrantische Bedürfnisse machen, und müssen bei der Teilnahme an Demonstrationen und selbst im Alltag mit der Angst leben, von der Polizei angegriffen oder kriminalisiert zu werden, was zum Verlust des Aufenthaltstitels und, wenn es nach Merz und co. geht, in Zukunft auch der selten genug vorhandenen doppelten Staatsbürgerschaft führen kann. Zugleich nehmen auch körperliche Angriffe auf Migrant:innen, die nicht von der Polizei ausgehen, zu5. Wenn den Ankündigungen aus dem Wahlkampf auch nur in Teilen Taten folgen, wird diese Entrechtung und Prekarisierung migrantischen Lebens in Deutschland in Zukunft nur weiter zunehmen.
Doch weshalb ist die rassistische Hetze gegen Migrant:innen zum Hauptthema der Parteien geworden? Dass es nicht wirklich um Sicherheit geht, wird schnell klar, wenn wir uns vor Augen führen, wie wenig Beachtung die erschreckenden Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland finden. Allein im letzten Jahr wurden 360 Frauen getötet, weil sie Frauen waren6, die Zahl der queerfeindlichen Straftaten hat sich seit 2010 verzehnfacht7. Dieses Thema findet im aktuellen Wahlkampf jedoch kaum Beachtung. Der rassistische Diskurs ist letztlich eine Nebelkerze, welche die eigentlichen Interessen, die hinter diesem Diskurs stehen, verschleiert. Genauso ist es die Erzählung der selbsternannten „Parteien der Mitte“, nach der die AfD die Trägerin allen Übels sei, die durch ihre Wahlerfolge die anderen Parteien zwinge, nun selber auch nach rechts zu rücken. Die AfD ist hierzulande die Avantgarde der Rechten. Sie hat es geschafft, sich als radikale Opposition zum Establishment darzustellen und ihrer Zielgruppe Antworten für die Ursachen ihrer Probleme sowie scheinbare Lösungen für diese anzubieten. Dabei wendet sie die Methoden der sich global auf dem Vormarsch befindenden und international stark vernetzten Rechten an, deren Aufschwung durch die anhaltenden Verwerfungen eines neoliberalen Kapitalismus und die Unfähigkeit der etablierten Kräfte begünstigt wird. Letztere haben es nicht geschafft, eigene Antworten auf die Probleme zu geben, geschweige denn real für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der großen Mehrheiten zu sorgen. Dass die anderen Parteien der AfD jetzt auf diesem Weg folgen, hat andere Gründe, als den Willen der „besorgten Bürger:innen“, die Angst vor den Migrant:innen haben, ernst nehmen zu wollen. In Wirklichkeit geht es ihnen nicht darum, weniger Migration zuzulassen oder alle Menschen, die keinen deutschen Pass haben, abzuschieben bis nur noch “Deutsche“ in Deutschland leben, sondern um die Kontrolle der Migration und der migrantischen Arbeiter:innen.
Globaler Kontext
Um zu verstehen, weshalb dem so ist, müssen wir uns die globalen und bundesdeutschen wirtschaftlich-politischen Verhältnisse vor Augen führen. Wir leben in einer Welt der multiplen Krisen. Der Kapitalismus ist ein chronisch instabiles System, dessen Wirtschaft seit seiner Entstehung zyklische Krisen produziert. Gleichzeitig erleben wir, wie der Kapitalismus zusätzlich von Krisen wie der Corona-Pandemie erschüttert wird, die mit zunehmendem Zusammenbruch des Klimas und der ökologischen Systeme immer häufiger werden.
Im Kontext dieser Krisen spitzen sich internationale Konflikte rasant zu. Die USA ist zwar weiterhin die stärkste imperiale Macht der Welt, was sich unter anderem in ihren Militärausgaben äußert – 2023 waren die der USA mit 916 Milliarden Dollar mehr als doppelt so hoch wie jene Chinas und Russlands zusammen8 –, aber dennoch bröckelt die US-Hegemonie. Das Resultat ist eine Zuspitzung der Konflikte zwischen konkurrierenden Machtblöcken – vor allem China und den USA – und eine zunehmende Unfähigkeit der USA, diese Konfrontation alleine zu tragen9. In diesem Kontext erhöht sie den Druck auf die EU, ihre militärischen Kapazitäten auszubauen, ohne die Kontrolle über den kleineren Verbündeten aufgeben zu wollen. Im Gegenteil wird dieser so in den sich zuspitzenden Konflikt mit China-Russland hineingezogen und dadurch stärker an die USA gebunden. Neben diesem Aspekt und der erhöhten militärischen Schlagfähigkeit dient die Aufrüstung dabei auch dazu, die Verwertung des Kapitals anzukurbeln.
Sowohl eine erhöhte wirtschaftliche als auch militärische Konkurrenzfähigkeit braucht eine starke Kontrolle der Lohnabhängigen im Inneren. Um in der internationalen Konkurrenz bestehen zu können, braucht es die Gewissheit, dass die Arbeiter:innen ohne Murren und Mucken zu Niedriglöhnen arbeiten und nicht auf die Idee kommen, den internationalen Wettstreit durch Lohnkämpfe o.Ä. zu behindern. Die Angst der Kapitalvertreter:innen vor solchen Beeinträchtigungen trat letztes Jahr während der Arbeitskämpfe der Gewerkschaft Deutscher Lokmotivführer (GDL) klar zutage. Vertreter:innen unter anderem der FDP und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände forderten, das Streikrecht in Bereichen „kritischer Infrastruktur“ und im Falle einer Belastung der Wettbewerbsfähigkeit einzuschränken10. Zudem soll die hiesige Bevölkerung darauf vorbereitet werden, wenn es Not tut, für deutsche Kapitalinteressen selbst das eigene Leben zu geben und in den Schützengraben zu steigen. Dabei wirkt das Geschrei nach Verteidigung der Demokratie und moralischer Verantwortung, mit dem solch eine Politik begründet wird, mit einem Blick auf Deutschlands Waffenexporte an Staaten wie Saudi-Arabien und Israel oder die Türkei11 im besten Fall lächerlich.
Nationaler Kontext
Doch was haben der rassistische Diskurs und die Politik nun mit der zugespitzten internationalen Konkurrenz zu tun? Der Zusammenhang ist in der zentralen Bedeutung für die deutsche Wirtschaft und die Kontrolle der Lohnabhängigen zu suchen. Denn ein rassistischer Diskurs ist keineswegs unvereinbar mit Migration, sondern erfüllt den Zweck, Migration und Migrant:innen unter Kontrolle zu halten und als Druckmittel gegen einheimische Arbeiter:innen einsetzen zu können, um auch diese gefügig zu machen.
Unter der Regierung Gerhard Schröders (SPD-Grüne) wurde Anfang der 2000er Jahre mittels der Agenda 2010 der Sozialstaat abgebaut und ein riesiger Niedriglohnsektor geschaffen. In Verbindung mit einer hochmodernen industriellen Infrastruktur machen diese niedrigen Lohnkosten Deutschland zu einem sehr attraktiven Produktionsstandort und das deutsche Kapital international konkurrenzfähig. Jedoch zerstörte das Senken des Lohnniveaus auch die Nachfrage des deutschen Binnenmarkts. Für das deutsche Kapital stellt dies kein Problem dar, da es sich auf den Export spezialisierte und dank seiner Konkurrenzstärke ausländische Absatzmärkte erobern konnte. Hierzu trägt bis heute auch die europäische Zoll- und Währungsunion bei, die anderen EU-Staaten mit weniger konkurrenzstarkem Kapital die Fähigkeit nimmt, ihren Binnenmarkt mittels Zöllen gegen das deutsche Kapital zu schützen oder ihre Währung abzuwerten, um eigene Exporte zu fördern.
Um dieses exportgetriebene Wirtschaftsmodell beizubehalten, braucht es massenhaft billige Arbeitskräfte. Die Geburtenrate in Deutschland gibt dies aber nicht her12, weshalb es nicht nur an jungen Arbeitskräften für die Exportwirtschaft, sondern auch an Pflegekräften mangelt. Um beide Probleme möglichst kostengünstig zu beheben, setzt Deutschland auf das Anwerben von Fachkräften im Ausland13. Das hat für Deutschland einerseits den Vorteil, nicht für deren Ausbildung aufkommen zu müssen. Andererseits können migrantische Arbeiter:innen viel leichter unter Kontrolle gehalten werden als deutsche Arbeiter:innen. Das liegt daran, dass migrantische Arbeiter:innen nicht gewerkschaftlich oder gar politisch organisiert sind, wenn sie nach Deutschland kommen. Damit das auch so bleibt, werden sie mittels der allgegenwärtigen Drohung der Abschiebung unter Kontrolle gehalten und gezwungen, sich mit niedrigeren Löhnen abzufinden.
Um diese Kontrolle selbst nach einer Einbürgerung aufrechtzuerhalten, wird nun über die Möglichkeit des Entzugs der deutschen Staatsbürgerschaft diskutiert14. Die Entrechtung migrantischer Fachkräfte ermöglicht den Kapitalist:innen zudem auch, die Löhne ihrer deutschen Belegschaft zu drücken, denn bei jeder Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr Lohn steht für die deutsche Belegschaft die Drohung im Raum, durch „günstigere“ ausländische Arbeitskräfte ersetzt zu werden. So wird nicht nur der Lohn gedrückt, sondern auch verschiedene Teile der lohnabhängigen Klasse – Migrant:innen und Deutsche – gegeneinander ausgespielt und Solidarität unterbunden.
Die rassistischen Debatten um Migration, die Entrechtung und de facto Abschaffung des Rechts auf Asyl sowie die grausamen und oft willkürlichen Abschiebepraktiken haben in diesem Kontext mehrere Funktionen. Einerseits dienen sie dazu, die Migration so zu strukturieren, dass nur noch von der Wirtschaft benötigte Fachkräfte das Land betreten können. Schutzsuchende und andere für das Kapital unproduktive Migrant:innen sollen hingegen ferngehalten werden. Zudem ermöglichen die prekären Aufenthaltstitel und zunehmend repressiven Gesetze, die politische Aktivität und Organisation der bereits in Deutschland lebenden Migrant:innen einzuschränken. Die für ihre politische Instrumentalisierbarkeit kritisierte Antisemitismusresolution15, die zuletzt im Bundestag verabschiedet wurde, in Verbindung mit dem Narrativ des importierten Antisemitismus, ist ein gutes Beispiel für diese Art der Politik. Die praktische Anwendung dieser Politk können wir anhand der Kriminalisierung und gewaltsamen Einschränkung von Grundrechten im Kontext der Demonstrationen gegen den Genozid in Palästina sehen sowie bei der rassistisch begründeten Militarisierung migrantisch geprägter Kieze. Die Möglichkeit und Geschwindigkeit der Einbürgerung an wirtschaftliche Integration zu binden16 und diese bei Straffälligkeit (z.B. begründet mit der Antisemitismusresolution) wieder rückgängig machen zu können17, ist ein anderes Beispiel für die Orientierung der Migrationspolitik an Kapitalinteressen. Mittels der Schaffung eines Klimas der Angst soll erreicht werden, dass Migrant:innen es nicht wagen, sich gegen ihre prekären und für das deutsche Kapital in dieser Form notwendigen Lebensbedingungen zu widersetzen, geschweige denn sich zur deutschen Außenpolitik zu äußern.
Die Aufenthaltserlaubnis an die wirtschaftliche Verwertbarkeit zu knüpfen, betrifft Frauen dabei besonders stark, da in der Regel sie Zuhause die Kinder betreuen und andere reproduktive Aufgaben außerhalb des Marktes übernehmen. Zwar könnte das kapitalistische System ohne diese reproduktive Arbeit nicht existieren, denn ohne sie würden keine neuen Arbeiter:innen geboren und aufgezogen, und ohne essenzielle Fürsorge wie emotionale Care-Arbeit, kochen, waschen, putzen, einkaufen etc. könnte die Arbeitskraft sich nicht erneuern. Doch für das Kapital ist die reproduktive Arbeit nicht „produktiv“, da sie nicht in den Markt integriert und damit nicht in-Wert-gesetzt ist. Zudem findet diese Arbeit im privaten Bereich statt und wird dadurch unsichtbar gemacht. In jedem Fall wird sie nicht entlohnt, sodass Frauen, und besonders Migrantinnen, gezwungen sind, neben ihrer unbezahlten Care-Arbeit weitere, in den Markt integrierte Arbeiten anzunehmen, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu gewährleisten. Uns Migrantinnen wird nun zudem mit Ausweisung gedroht, sollten wir nicht in der Lage sein, gleichzeitig die unbezahlte reproduktive Arbeit und den Billiglohnsektor zu bedienen. Das beabsichtigte Ergebnis ist, dass die (schlecht) bezahlte Sorgearbeit in diesem Land vor allem von migrantischen Frauen geleistet wird.
Ebenso werden alle anderen Menschen, die aus der Perspektive des Kapitals nicht produktiv sind, also alle, die reproduktive Arbeit leisten oder andere Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen in keiner Situation sind, eine Lohnarbeit antreten zu können – z.B. alte Menschen, Menschen mit Behinderungen und chronisch Erkrankte – als nutzlos oder gar verachtenswürdig verrufen. Das Ziel ist das Selbe wie die rassistische Hetze gegen Migrant:innen und z.T. überlappen sich die so aufgebauten Feindbilder.
Gleichzeitig erlaubt der rassistische Diskurs gegenüber der deutschen Lohnarbeiterschaft, deren Niedergang des Lebensstandards zu erklären und von den wahren Ursachen, der Ausbeutung durch die Kapitalist:innen und die Rieseninvestitionen in die Militarisierung der Gesellschaft, abzulenken. Zudem werden Arbeiter:innen und die Zivilgesellschaft durch die spektakulären und brutalen Machtdemonstrationen gegenüber Migrant:innen und der generell verschärften Repression in einen Zustand der lähmenden Angst und des Hasses versetzt. Auch wenn klar ist, dass wir als rassifizierte Migrant:innen besonders hart durch die alltägliche Gewalt getroffen werden, geht es letztendlich darum, die organisierten gesellschaftlichen und politischen Kräfte zu zerschlagen, die es wagen, sich gegen die Macht des Kapitals zu stellen. Für eine längere Analyse siehe unseren Text „Krise, Organización Popular und die Zukunft“18.
Politischer Kontext
Entsprechend der Bedürfnisse des deutschen Kapitals herrscht von AfD über CDU, FDP, SPD und Grüne bis zum BSW Einigkeit im Hinblick auf die rassistische Hetze gegen Migrant:innen und Arbeitslose. Manche Parteien, wie z.B. die Grünen, mögen dabei etwas weniger menschenverachtend auftreten und die menschenrechtlichen Verpflichtungen stärker betonen. Dennoch stimmten auch sie für Haftlager an den EU-Außengrenzen19, heben die wirtschaftliche Integration als zentral in der Migrationspolitik hervor und treiben die Konfrontation mit Kapitalinteressen anderer Machtblöcke mit Enthusiasmus voran und folgerichtig auch die Militarisierung. Die Rede von Robert Habeck nach dem 7. Oktober 2023, gerichtet an Muslime, die fast eher zufällig auch als Deutsche angesprochen werden, hallt uns nach. Genauso die Wörter von Annalena Baerbock, dass Krankenhäuser und Schulen in gewissen Situationen ihren Schutzstatus verlieren können, unabhängig davon, ob Verletzte, Kinder oder, wie meistens, verletzte Kinder eben genau dort Schutz suchen. Die Grüne ist die Partei, die versucht das Bild eines aufgeklärten und humanen Deutschlands aufrechtzuerhalten, aber nur als Bild, damit sich die, die zurecht von den Diskursen anderer Parteien abgeschreckt werden, sich bei ihnen moralisch wohlfühlen können.
Wir rufen zum Wählen auf – und weit mehr!
Auch, wenn wir nun zur Wahl aufrufen, sind wir uns doch darüber bewusst, dass der Wandel nicht durch die Parlamente kommen wird. Dort werden ggf. politische Entscheidungen getroffen und daher hat es einen gewissen Einfluss, wer dort sitzt, aber den größeren Einfluss auf diese Entscheidungen und gesellschaftlichen Wandel generell haben die Kräfteverhältnisse, die außerhalb des Parlaments gebildet werden. Dies wurde erst vor Kurzem erneut sichtbar als der Gesetzesentwurf des sog. „Zustrombegrenzungsgesetz“ der CDU mehrheitlich abgelehnt wurde, nachdem es nach der mehrheitlichen Zustimmung zu einem der Anträge der CDU20 zwei Tage zuvor zu massiven Demonstrationen21 gekommen war.
Um dieses Kräfteverhältnis nachhaltig zu unseren Gunsten zu verschieben ist es unumgänglich, der rassistischen Hetze gegen Migrant:innen eine Politik entgegenzusetzen, welche versteht, dass nur der gemeinsame Kampf für bessere Lebensbedingungen der Migrant:innen auch jene der restlichen lohnabhängigen Bevölkerung verbessern wird. Nur so kann die Macht der Bosse, den Einen damit zu drohen, abgeschoben zu werden, wenn sie nicht kuschen und sich mit einem erbärmlichen Lohn zufriedengeben, und gleichzeitig den Anderen damit zu drohen, durch billiger arbeitende Migrant:innen ersetzt zu werden, gebrochen werden. Die zentrale Rolle der Migrant:innen im Klassenkampf zu erkennen und bereit zu sein, entsprechende Bündnisse aufzubauen, sehen wir als Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewegung gegen den Vormarsch der Rechten.
Zur Zeit sehen wir keine parlamentarische Kraft, die diese Position klar vertritt. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass eine wahrnehmbare Stimme im Parlament existiert, die der eintönigen Hetze widerspricht und somit die Existenz gegenläufiger Positionen auch für Menschen wahrnehmbar macht, die sich abseits parlamentarischer Politik nicht für diese interessieren oder schlicht keinen Kontakt zu ihr haben. Eine solche Stimme ist momentan nur die Partei die Linke (PdL). Sollte die PdL aus dem Bundestag fliegen, gäbe es diese Stimme nicht mehr und der rassistische Diskurs würde sich in parlamentarischen Debatten und der Berichterstattung über diese unwidersprochen durchsetzen.
Wir haben viele Meinungsverschiedenheiten mit und Kritiken an der PdL. So hat diese immer wieder Arbeitskämpfe auf kommunaler Ebene verraten und war an Abschiebungen beteiligt oder sogar federführend, vor allem in Thüringen. Außenpolitisch hat die Partei alle ihre anti-militaristische Positionen unglaubwürdig gemacht, und im Bezug auf den Genozid in Gaza kann man nur von einem Totalversagen sprechen.
Dennoch gibt es Teile der PdL, die einen anderen Weg gewählt haben und die vielbeschworene Erneuerung der Partei ernst nehmen. Im Bezirk Neukölln hat die PdL mit Ferat Koçak einen Direktkandidaten aufgestellt, der für uns mit seiner Einstellung zur internationalen Solidarität22 im Allgemeinen, seiner Vision einer Basisarbeit, in der migrantische Stimmen eine zentrale Bedeutung haben, und seiner Einstellung zu Palästina einen Hoffnungsschimmer innerhalb der Partei darstellt. Bereits bei der Landtagswahl in Sachsen wurde im Wahlkampf um die Direktkandidatur Nam Duy Nguyens23 bewiesen, welches Potential diese Positionen für eine Erneuerung der PdL entfalten können, wenn sie mit einer partizipativen und demokratisierenden Praxis verbunden werden. Unsere Unterstützung gilt diesen Kräften und wir erwarten, dass sie uns als Mitstreiter:innen wahr- und ernstnehmen.
Nur wenn die PdL breitere Teile verschiedener Bewegungen nicht nur in die Parteiarbeit integriert, sondern auch den Dialog mit migrantischen und anderen sozialen und politischen außerparlamentarischen Organisationen sucht, um gemeinsam und auf Augenhöhe politische Projekte und Forderungen zu erarbeiten sowie ein instrumentales Verhältnis zu ihrer Wählerschaft und besonders zu jenen, die wir keine Stimme bei den Wahlen haben, überwindet, wird ihre Erneuerung nachhaltig und das Wechselspiel außerparlamentarischer und parlamentarischer Kräfte fruchtbar sein können.
In diesem Sinne und im vollen Bewusstsein der Beschränkungen der parlamentarischen Demokratie innerhalb des Kapitalismus und der Meinungsverschiedenheiten und Kritiken, die wir mit und an der PdL haben (s.o.), rufen wir dazu auf, bei den Bundestagswahlen am 23. Februar die Linke zu wählen.
Zudem rufen wir dazu auf die Kandidaturen von Inés Heider von der Revolutionäre Internationalistischen Organisation (RIO) in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und von Franziska Thomas von der Revolutionären Sozialistischen Organisation (RSO) in Tempelhof-Schöneberg mit der Erststimme zu unterstützten. Ihre Programme beinhalten Forderungen24 wie das Wahlrecht für Migrant:innen, Enteignung großer Konzerne und die Beendigung des Genozids in Gaza, die wir auch von der PdL fordern.
Drittens rufen wir die organisierte Linke dazu auf, Verständigungsprozesse zu organisieren, um strategische, über die Wahlen hinausdenkende Diskussionen zu führen und die sektiererische Zersplitterung der Linken und die daraus entstehende gesellschaftliche Irrelevanz radikaler linker Kräfte in Deutschland zu überwinden. Diese müssen Migration, Rassismus und das hetero-cis-Patriarchat als integrale Bestandteile der Reproduktion des Kapitals begreifen und ihren Kampf für Frieden und Würde aller Menschen entsprechend gestalten.
Die Rechte ist überall auf dem Vormarsch, von Orbán über Bukele, Bolsonaro und Milei bis Trump und Netanjahu, und sie organisiert sich international, trotz all ihrer politischen Differenzen. Genauso muss auch unser Kampf auf nationaler und internationaler Ebene stattfinden – er muss internationalistisch sein!
Wir sind Migrant:innen, die sich für eine Welt ohne Zentren und Peripherien organisieren. Wir sind Migrant:innen, die an die Freiheit der Migration als Recht glauben. Wir sind die Deutschen, die ihre Stimme erheben, wir sind die Deutschen, die migrantisiert werden, wir sind die Verfolgten, die eine andere Meinung haben, wir sind das Anderssein, die unproduktiven, wir sind die Unerwünschten Wir sind der verleugnete Osten, wir sind der Süden in Revolte. Wir sind viele, mehr als die erwünschten.
- https://de.labournet.tv/video/5793/diese-arbeitsniederlegung-war-nicht-geplant ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migration-antrag-union-100.html ↩︎
- https://www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf-scholz-ueber-migration-es-kommen-zu-viele-a-2d86d2ac-e55a-4b8f-9766-c7060c2dc38a ↩︎
- https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/habeck-gruene-wahlkampf-sicherheit-100.html
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/asylreform-eu-fluechtlinge-aussengrenzen-migration-100.html ↩︎ - https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-02/gefluechtetenunterkunft-anschlaege-anstieg-straftaten-2024
https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/magdeburg/magdeburg/attentat-weihnachtsmarkt-neue-details-gewaltsame-angriffe-migranten-116.html ↩︎ - https://www.tagesschau.de/inland/straftaten-frauen-statistik-100.html ↩︎
- https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/lgbt-queer-hass-gewalt-straftaten-100.html ↩︎
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/ ↩︎
- https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/eu-sondergipfel-verteidigung-sicherheit-100.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/wirtschaft/bahnstreik-streikrecht-fdp-100.html ↩︎
- https://www.dw.com/de/deutschland-exportiert-immer-mehr-waffen/a-71097578 ↩︎
- https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/geburtenziffer.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/marokko-fachkraefte-einwanderung-100.html
https://www.tagesschau.de/ausland/kenia-migrationsabkommen-100.html
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/fachkraefte-indien-100.html ↩︎ - https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/entzug-der-staatsbuergerschaft-krimineller-doppelstaatler-friedrich-merz-bundesinnenministerium-verfassungswidrig ↩︎
- https://www.deutschlandfunk.de/antisemitismus-resolution-bundestag-israel-meinung-100.html
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/forscher-kritisieren-antisemitismus-resolution-scharf-110265125.html ↩︎ - https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/staatsangehoerigkeitsrecht-einbuergerungen-ueberblick-100.html ↩︎
- https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/entzug-der-staatsbuergerschaft-krimineller-doppelstaatler-friedrich-merz-bundesinnenministerium-verfassungswidrig ↩︎
- https://bloquelatinoamericanoberlin.org/de/2025/02/10/krise-organizacion-popular-und-die-zukunft/ ↩︎
- https://www.fr.de/politik/eu-asyl-kompromiss-flucht-vertreibung-schutz-lager-92341937.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migration-antrag-union-100.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/demonstrationen-union-afd-100.html ↩︎
- https://bloquelatinoamericanoberlin.org/2024/11/03/como-construimos-internacionalismo/ ↩︎
- https://jacobin.de/artikel/landtagswahl-sachsen-die-linke-nam-duy-nguyen ↩︎
- https://www.klassegegenklasse.org/wahl/ ↩︎