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migrantische Selbstorganisation

Sisyphus und die Anmeldung: die Spirale der Wohnungsnot von Migrant*innen in Berlin

Kunst: mvictoria.rodriguez [ig]

Migrant*innen und Könige haben normalerweise nicht viel gemeinsam, aber Berlin ist ein besonderer Ort. In der griechischen Mythologie wurde der Monarch Sisyphos von den Göttern dazu verdammt, einen riesigen Felsbrocken einen steilen Hang hinaufzurollen. Kurz bevor er den Gipfel erreichte, rollte der große Stein jedoch herunter, und der Verurteilte musste seine Aufgabe wieder von vorne beginnen, immer und immer wieder, bis in alle Ewigkeit. Auf dieselbe absurde und frustrierende Weise können die meisten Migrant*innen, die in Berlin ankommen sich nicht anmelden (Meldeadresse) und müssen eine Zurückweisung nach der anderen hinnehmen. Ob es nun darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen, eine Krankenversicherung abzuschließen, einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen, eine Steuer-ID zu erhalten oder eine offizielle Adresse zu haben, an die man Post schicken kann: In Deutschland ist die Anmeldung für fast jede Art von Verfahren notwendig.

Dieses allgemeine bürokratische Hindernis, das einem jeden Versuch im weg steht, die Verletzbarkeit hinter sich zu lassen, welche die Migration immer mit sich bringt, wird noch verschärft durch das dringlichste soziale Problem der Gegenwart: In Deutschland fehlen 700.000 Wohnungen.[1] Insbesondere in Berlin treiben steigende Mieten und das sehr begrenzte Angebot an verfügbaren und bezahlbaren Wohnungen im Stadtzentrum die Menschen immer weiter an den Rand der Stadt und isolieren sie von den zentralen Orten der Arbeit, Kultur, Gesundheit und des sozialen Lebens. Wohnen hat aufgehört, ein soziales Recht zu sein, das auf die Befriedigung eines grundlegenden menschlichen Bedürfnisses – des Wohnens – ausgerichtet ist und ist zu einer Ware geworden, d. h. zu etwas, das produziert und auf dem Markt verkauft wird, um Gewinne zu erzielen.

Die Kommerzialisierung des Wohnens ist das Ergebnis einer relativ neuen historischen Form der Kapitalakkumulation, die durch die Vorherrschaft des Finanzwesens und der Grundrenten über das Produktivkapital gekennzeichnet ist. Dieser Prozess der globalen Finanzialisierung des Immobilien- und Wohnungsmarktes betrifft natürlich alle Menschen, die im Kapitalismus leben. Aber die Gewalt dieses Phänomens in Verbindung mit der bürokratischen Funktionsweise der deutschen Institutionen trifft uns Migrant*innen in Berlin besonders hart. Aufgrund unsicherer Arbeitsvisa, mangelnder Sprachkenntnisse und schlecht bezahlter Jobs im Reinigungs-, Liefer- und Pflegesektor sind Migrant*innen die Hauptleidtragenden von Diskriminierung bei der Wohnungssuche. Da es ihnen an Kontakten und Unterstützungsnetzen mangelt, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, exorbitante Preise für winzige Zimmer zu zahlen, die sie in der Regel nur zeitlich begrenzt oder zur Untermiete bewohnen können. Unter diesen unbeständigen Wohnverhältnissen ist es praktisch unmöglich, seine Meldeadresse bei öffentlichen Ämtern anzumelden. Dieses Hindernis wird zum Ausgangspunkt eines Teufelskreises der Prekarität, der das Leben der Migrant*innen in Berlin einnimmt: Ohne Anmeldung bleiben die neuen Berliner*innen von den grundlegendsten städtischen Gütern und Dienstleistungen ausgeschlossen und haben keine Möglichkeit einer formalen Arbeit nachzugehen. Ohne letztere ist es allerdings noch einmal schwieriger eine Wohnung zu finden, in der man sich anmelden kann.

Berlins Kämpfe um das Recht auf Stadt und die neue Rolle der Migrant*innen

Berlin hat eine bedeutende Tradition des städtischen Protests. Seit den 1970er Jahren organisierten sich zu verschiedenen Zeiten große Teile der Bevölkerung, um den Abriss alter Häuser in Arbeitervierteln [Altbauviertel] zu stoppen, den Bau von Autobahnen und großen Infrastrukturprojekten zu verhindern und stattdessen den öffentlichen Charakter wichtiger Räume wie des Gleisdreicks, des Görlitzer Parks und in jüngerer Zeit des Tempelhofer Feldes zu erhalten. Einer der Hauptakteure dieser Kämpfe war der autonome linke Sektor, der zusammen mit Studierenden, Arbeitslosen und Ausgegrenzten eine Hausbesetzerbewegung organisierte, die in den 1980er Jahren mehr als 200 Häuser in Kreuzberg und nach dem Fall der Mauer 130 Häuser in Friedrichshain in Besitz nahm. Frauen und Queers haben ein wichtiges und oft vergessenes Kapitel in dieser Geschichte des städtischen Kampfes geschrieben. Sie erprobten verschiedene antipatriarchale, auf Kooperation basierende Wohnexperimente, die zu legendären Erfahrungen wie dem Hexenhaus, der Bülowstraße 55 und dem Tuntenhaus Forellenhof führten.

Doch in den 1990er Jahren, als die überwiegende Mehrheit der selbstverwalteten Wohnprojekte in Berlin von den politischen Behörden legalisiert oder von der Polizei geräumt wurden, leitete die Stadtverwaltung einen groß angelegten und systematischen Prozess des Verkaufs von Baugrundstücken und Sozialwohnungen an private Investor*innen ein. Zwischen 1990 und 2017 wurden insgesamt 21 Millionen Quadratmeter öffentlicher Grund und Boden verkauft, eine Fläche so groß wie der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Von den 590.000 Sozialwohnungen, die zu Beginn dieses Zeitraums in der Stadt zur Verfügung standen, waren im Jahr 2010 nur noch rund 270.000 übrig. Wichtig ist, dass die meisten dieser 320.000 verkauften Wohnungen nicht an Einzeleigentümer*innen verkauft wurden, sondern an große Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Akelius & Co. und Vonovia, deren Hauptziel darin besteht, den Wert ihrer Aktien ständig zu steigern, wodurch die oben beschriebenen Prozesse der Kommerzialisierung von Wohnraum und der städtischen Segregation vertieft werden.

Aufgrund des sozialen und politischen Drucks der Bevölkerung und der Mieter*innenorganisationen verabschiedete der Berliner Senat am 24. Februar 2020 ein Gesetz zur Begrenzung der Mietpreise für bestimmte Wohnungstypen [Mietendeckel]. Der Widerstand der Immobilienlobby, der FDP, der CDU und der AfD führten jedoch dazu, dass das Gesetz nach etwa einem Jahr Laufzeit vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde. Die Rückzahlung der Differenzbeträge der während der Gültigkeit des Mietendeckels niedrigeren Mieten zu ihrem Normalniveu verstärkte die soziale Unzufriedenheit zusätzlich zu der allgemeinen, durch Covid-19 noch verschärften Krise. Hierdurch entstand ein Klima, das dem Triumph der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. Enteignen begünstigte. Dieser von verschiedenen individuellen und kollektiven Akteur*innen organisierten Initiative ist es gelungen, am 26. September 2021 einen Volksentscheid zu gewinnen, der die Enteignung privater, profitorientierter Immobiliengesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen, vorschlägt. Insgesamt handelt es sich um 243.000 Wohnungen, die sich zum Großteil in den Händen der drei oben genannten großen Konzerne befinden. Der Volksentscheid fordert, dass die Anteilseigner durch eine Anstalt des öffentlichen Rechts deutlich unter dem Marktwert der Immobilien entschädigt werden. Die Immobilienlobby und die bereits erwähnte parlamentarische Allianz, an der auch die Sozialdemokratie (SPD) beteiligt ist, haben es jedoch geschafft, die Umsetzung in den letzten zwei Jahren zu blockieren.

Ein neues historisches Merkmal in dieser neuen Phase des Kampfes um das Recht auf Stadt ist die politische Beteiligung von Migrant*innen. Während die Konflikte um die Besetzungen in Kreuzberg in den 1980er Jahren vorwiegend von deutschen linken Gruppen angeführt wurden, sind die Proteste des neuen Jahrhunderts durch neue Protagonist*innen gekennzeichnet; Arbeiterfamilien mit Migrationsgeschichte in Nachbarschaftsinitiativen wie Kotti & Co oder die Migrant*innen und illegalisierten Einwanderer*innen, die den Oranienplatz und das Gebäude der Gerhard-Hauptmann-Schule zwischen 2012 und 2014 besetzten sind hierfür Beispiele. Diese Erfahrungen sind wichtig, weil sie zum ersten Mal verschiedene Gruppen sichtbar machen, die zuvor aus den städtischen Debatten ausgegrenzt waren, und ihnen die Möglichkeit geben, Antworten auf die Probleme zu fordern, die sie betreffen: Wer hat das Recht, im „Zentrum“ der Stadt zu leben: die Bessergestellten, diejenigen, die seit Generationen hier leben, oder diejenigen, die sich mit einem bestimmten städtischen Lebensstil identifizieren? Und nach welchen Kriterien werden diese Gewohnheiten und Lebensstile definiert? Ist es möglich, sie gegen die fortschreitende Kommerzialisierung zu verteidigen? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Teile der städtischen Bevölkerung, die vom Wahlrecht und damit von der Demokratie in der Stadt ausgeschlossen sind?

Die Sprache des Kampfes für die soziale Wohnraumproduktion übersetzen

Ciudad Migrante ist ein vom Bloque Latinoamericano organisierter Raum, an dem sich alle beteiligen können, die über die spezifischen Auswirkungen des Wohnungsmarktes und der Bürokratie auf die Entfaltung des Lebens von Migrant*innen in Berlin nachdenken möchten. Sein Hauptziel ist es, auf der Grundlage von Selbstverwaltung und gegenseitiger Hilfe kollektive Lösungen für das Problem des Zugangs zu Wohnraum zu entwickeln. Im Laufe des letzten Jahres haben die Teilnehmer*innen der Initiative verschiedene kommunikative Werkzeuge entwickelt, die Migrant*innen helfen, ihre Rechte als Mieter*innen besser zu verstehen und vor allem zu verteidigen. In Zusammenarbeit mit Künstler*innen und Geograph*innen sind Illustrationen, Videos, Texte und Karten entstanden, die eine kritische Orientierung während des Prozesses der Wohnungssuche in Berlin bieten. Auf praktische und zugängliche Weise erklären diese Ressourcen, wie man ein Zimmer bekommt, welche Merkmale, Rechte und Pflichten die verschiedenen Arten von Mietverträgen haben, vor welchen Betrügereien man sich in Acht nehmen muss, welche Möglichkeiten es für den Umgang mit geschlechtsspezifischer häuslicher Gewalt gibt und viele andere unverzichtbare Informationen, die nicht immer offen zugänglich sind, wenn man in einer unbekannten Stadt ankommt. Aber über ihre analytische und kommunikative Funktion hinaus, sind die Werkzeuge von Ciudad Migrante als Instrumente für die Bildung und die politische Aktion im Kampf gegen die Prekarität geschaffen, welche durch die Bürokratie und den Immobilienmarkt erzeugt wird. Diese Instrumente bringen die konkreten Bedürfnisse der lateinamerikanischen Bevölkerung in Berlin zum Ausdruck, sind aber politisch inspiriert von den Consejos Comunales in Venezuela, von der Federación Uruguaya de Cooperativas por la Ayuda Mutua (FUCVAM), dem Movimiento de Ocupantes e Inquilinos (MOI) in Argentinien und dem Movimiento de Trabajadores sin Techo (MTST) in Brasilien, um nur einige der bekanntesten Erfahrungen des urbanen Kampfes in unseren Herkunftsterritorien zu nennen. Trotz der großen Vielfalt der politischen Traditionen, die hier im Spiel sind, sind alle diese Organisationen das Ergebnis der protagonistischen Rolle, welche die unterdrückten Sektoren der Bevölkerung in den Prozessen der sozialen Produktion von Lebensraum gespielt haben. Es ist diese gemeinsame Sprache der Selbstverwaltung, die der Bloque Latinoamericano zu übersetzen wählt, um mit eigenen Stimme gegenüber dem Staat und den parlamentarischen Parteien in Berlin die Bedingungen und Formen seines migrantischen Kampfes für das Recht auf Stadt zu formulieren.

Ins Deutsche übersetzt von Tuk

[1]Das ist das zentrale Ergebnis der Studie „Bauen und Wohnen in der Krise – Aktuelle Entwicklungen und Rückwirkungen auf Wohnungsbau und Wohnungsmärkte“, die am 12.01.2023 veröffentlicht wurde. Die Analyse wurde von der berliner Initiative „Soziales Wohnen“ beauftragt, Teil derer die Gewerkschaft IG BAU, der Mieterbund, eine soziale Einrichtung der Cáritas und zwei Bauvereinigungen sind.
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